Einführung zum GER für Gebärdensprachen (GS)

Gebärdensprachen sind vollwertige Sprachen

Wenn ein Baby oder Kleinkind in einem gebärdensprachlichen Umfeld (z.B. Eltern) aufwächst, dann kann es die Gebärdensprache als Erstsprache erwerben – gleich wie bei Lautsprachen. Das bedeutet, die psychologische Sprachentwicklung funktioniert gleich wie bei den Lautsprachen.
Sprachwissenschaftliche Studien zeigen, dass Gebärdensprachen vollwertige und natürliche Sprachen sind. Die Gebärdensprachen haben wie Lautsprachen ihre eigenen grammatikalischen Regeln.
Deshalb ist die Gebärdensprache keine Kommunikationsform mit Gesten. Die Gebärdensprache ist unabhängig von Lautsprachen.

Was ist ein Gebärden-Text?

Der Begriff „Gebärden-Text“ hat eine eigene Gebärde. „Gebärden-Text“ bedeutet ein gebärdeter Text in Videoform. Dieser Gebärdentext ist „Distanzsprache“, denn die gebärdende Person hat mit dem Adressaten keinen direkten Kontakt. Ein Gebärden-Text kann wie ein schriftlicher Text in Lautsprache alle Textkriterien erfüllen, zum Beispiel hat der Gebärden-Text auch einen roten Faden.
Früher, als es noch keine Kameras gab, konnte man noch keine Gebärdentexte speichern. Heute ist das dank der modernen Technik möglich geworden.
Trotzdem gab es früher auch schon Gebärdentexte, man konnte sie einfach nicht auf Video festhalten. Früher wurden die Gebärdentexte einander erzählt, es gab einen mündlichen Austausch, eine mündliche Überlieferung. Beispielsweise hat man sich Geschichten, Witze oder Gebete erzählt. Die Texte wurden früher durch die GS-Gemeinschaft verbreitet und der nächsten Generation weitergegeben. Diese Texte von damals betrachten wir als „Nähesprache“.
Gebärdentexte von früher konnte man deshalb nicht erforschen, weil sie technisch nicht gespeichert werden konnten. Heute ist dies dank der technologischen Entwicklung der Kamera möglich. Der Begriff Gebärdentext ist deshalb eng mit der Videoform verbunden.

Warum braucht es einen GER für GS?

Der GER wurde ursprünglich für Lautsprachen entwickelt. Aber auch im Gebärdensprach-Bereich entstand das Bedürfnis nach einem GER und somit das Bedürfnis nach einheitlichen Kompetenzniveaus für das Lernen, Unterrichten und Beurteilen. Der GER für GS ist wichtig für die Entwicklung eines Curriculums und von Lernzielen.

Schon heute nutzen Gebärdensprach-Lehrpersonen den GER für ihre Kurse. Das hilft ihnen, den Kurs besser zu strukturieren.
Viele Hörende haben grosses Interesse daran, die GS zu lernen, zum Beispiel Eltern, Dolmetscher oder Lehrpersonen von gehörlosen Kindern. 95 % der gehörlos geborenen Kinder haben hörende Eltern.
Im Bildungsbereich ist der Bedarf nach einem GER für GS also gross, denn viele Personen brauchen ein hohes Niveau in der GS-Ausbildung, nicht nur die Familie von gehörlosen Personen. Ziel ist es, gehörlose Menschen gut in die Gesellschaft zu integrieren. Dafür brauchen wir Dolmetscher, Pädagogen, Linguisten und Sozialarbeiter, die ihre GS-Kompetenz auf verschiedenem Niveau nachweisen können.
Auch gehörlose Migranten brauchen Gebärdensprachkurse, um sich optimal zu integrieren.
Deshalb ist der Bedarf nach Gebärdensprachkursen hoch.
Der GER für GS hat auch eine wichtige Funktion für die Anerkennung der GS als vollwertige Sprache und der Anerkennung der Gebärdensprach-Lehrperson als Beruf.

Darum unterstützen viele Institutionen in der Gebärdensprachgemeinschaft die Entwicklung des GER für GS.

Ist der GER für Lautsprachen und der GER für Gebärdensprachen gleich?

Viele GER-Deskriptoren für Lautsprachen passen auch für Gebärdensprachen, weil Gebärdensprachen die gleichen kommunikativen Funktionen erfüllen können.
Es gibt bei beiden Bereichen Überschneidungen, es gibt aber auch Unterschiede. Zuerst werden hier die gemeinsamen Punkte aufgeführt, dann die Unterschiede.

Gemeinsamkeiten

Die kommunikativen Sprachaktivitäten der Lautsprache können auf die Gebärdensprache übertragen werden. Dies sind Rezeption (Verstehen), Produktion (Gebärden), Interaktion (Gespräch) und Sprachmittlung (Dolmetschen/Übersetzen).
Diese Gemeinsamkeiten sind die Basis für das ProSIGN-Projekt des ECML. Dieses Projekt hat Deskriptoren für Gebärdensprache aus dem GER für Lautsprache abgeleitet.

Unterschiede

Im Bereich der Sprachkompetenz unterscheiden sich die beiden Bereiche GS und LS aber stark. Natürlich werden die vier folgenden Fachbereiche gleich genannt:

  1. Syntax, 2. Semantik, 3. Morphologie, 4. Phonologie.

Aber die Kompetenzen in diesen 4 Fachbereichen sind in GS und LS ganz andere. Beispielsweise gibt es die Kompetenzen, die die Nutzung des Gebärdenraums betreffen, in der LS nicht. Deshalb musste man für diese 4 Bereiche neue Deskriptoren entwickeln.
Spezifisch für die GS sind also z. B. Kompetenzen, bei denen es um die Raumnutzung oder um diagrammatische Kompetenzen geht, beispielsweise wenn es um den Einsatz des richtigen Klassifikators an der richtigen Position mit der richtigen Mimik geht.
Zudem gibt es auch verschiedene Gebärdensprachen, z. B. ASL, LSF…. Auch die Unterschiede zwischen diesen Sprachen muss man erfassen.

Die kommunikativen Funktionen von Lautsprachen können zwar auf Gebärdensprachen übertragen werden, LS und GS sind deswegen aber nicht gleich, denn die GS benutzt den visuellen Kanal und die LS den auditiven. Die GS hat also eine andere Modalität als die LS. Deshalb kann man die GER-Niveaus von Lautsprachen nicht eins zu eins auf die Gebärdensprachen übertragen.
Zudem sind in der LS Lese- und Textkompetenzen gefordert. In der GS sind diese auch gefordert, aber sie beziehen sich nicht auf schriftliche Texte, sondern auf Videos. Auch hier braucht es also eine Anpassung und eine andere Vorstellung des Textbegriffs.
In beiden Bereichen (LS und GS) sind Sprachkompetenzen jedoch aus den 3 Unterbereichen Linguistik, Pragmatik und Soziolinguistik gefordert. Einzelne Kompetenzen der LS sind auf in der GS gefordert. Diese gemeinsamen Kompetenzen werden hier noch einmal aufgeführt, damit man alle Deskriptoren in Videoform übersichtlich zusammen hat

Das Fingeralphabet (FA)?

Das Fingeralphabet ist ein „Buchstabieren“ mit der Hand, pro Buchstabe gibt es eine Handform. Es funktioniert wie ein manuelles ABC. Man braucht es zum Beispiel für Eigennamen, unbekannte Wörter oder Fachbegriffe, die keine Gebärden haben. Wenn jemand nicht lesen oder schreiben kann, kann er auch nicht das Fingeralphabet benutzen.
Das FA gehört in den Bereich der «Kontaktsprache» zwischen lautsprachlich und gebärdensprachlich orientieren Personen. Sie ist nicht Teil der GS, aber wichtig für die Vermittlung zwischen LS und GS. Darum muss man das FA lernen, wenn man GS lernt. Das bedeutet auch, dass gehörlose Personen durch das FA einen besseren Zugang haben zu Wissen, das in schriftlichen Texten steckt.